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Die intellektuelle Flucht vor dem Fühlen

In der psychotherapeutischen Arbeit begegnen wir häufig dem Phänomen der Intellektualisierung – einer kognitiven Abwehrstrategie, bei der emotionales Erleben in rationale Kategorien transformiert wird. Was auf den ersten Blick wie tiefgehende Einsicht erscheint, kann sich in der therapeutischen Dynamik als subtiler Schutzmechanismus entpuppen.

Diese Form der Abwehr ist besonders verbreitet bei hochreflektierten, bildungsnahen Klient:innen, bei denen emotionale Verletzlichkeit mit Kontrollverlust assoziiert wird. Die Sprache wird dabei zum Schutzschild, der Körper zur leeren Bühne – unbespielt, unberührt, aber voller unausgedrückter Botschaften.

Intellektualisierung als psychodynamische Abwehr

In der psychoanalytischen Theorie zählt die Intellektualisierung zu den sogenannten reiferen Abwehrmechanismen, die weniger destruktiv wirken als etwa Verdrängung oder Projektion. Dennoch kann sie den therapeutischen Prozess blockieren – vor allem dann, wenn sie zur Vermeidung tiefgreifender affektiver Prozesse dient.

Typische Sätze wie:

  • „Ich verstehe genau, warum ich so reagiere – das hat mit meiner frühen Bindung zu tun.“
  • „Das ist ein klassischer Mechanismus meines inneren Kritikers.“

… mögen auf den ersten Blick ressourcenorientiert wirken, verhindern jedoch oft die emotionale Integration des Erlebten.

Hier wird der Körper zum Schlüssel – und zur Einladung, das Gespräch mit sich selbst auf eine tiefere Ebene zu führen.

Körperorientiertes Arbeiten:

Vom Verstehen zum Spüren

Der Körper ist nicht nur Träger von Symptomen – er ist Ausdrucksort unbewusster Prozesse. In körperorientierten Verfahren (z. B. Focusing nach Gendlin, körperpsychotherapeutische Ansätze, achtsamkeitsbasierte Methoden) wird das somatische Erleben zur Ressource für therapeutische Erkenntnis.

Die zentrale Leitfrage in der Sitzung lautet nicht mehr:

  • „Was denken Sie darüber?“,
sondern:
  • „Was spüren Sie, wenn Sie das sagen?“

Diese Verschiebung vom Kognitiven ins Sensorische eröffnet neue Erlebnisräume – oft jenseits sprachlicher Kontrolle. Die therapeutische Beziehung fungiert dabei als sicherer Container für das, was sich zeigt – manchmal zittrig, manchmal schmerzhaft, immer lebendig.

Praxisbeispiel: Eine Übung zur Erdung und Affektwahrnehmung

Übung: „Die körperliche Spur der Emotion“
Dauer: ca. 10–15 Minuten, geeignet für Einzelsitzungen

Ziel: Förderung der Affektwahrnehmung und Unterbrechung intellektualisierender Muster.

Ablauf:

  1. Einstieg mit AchtsamkeitBitten Sie die Klient:in, für einen Moment die Augen zu schließen und drei bewusste Atemzüge zu nehmen. Aufmerksamkeit auf die Sitzfläche, die Füße am Boden, die Atmung im Bauch.
  2. Aktuelle Emotion benennen: „Wenn Sie an das Thema denken, das Sie gerade beschäftigt – welche Emotion ist im Vordergrund?“  – (z. B. Wut, Angst, Traurigkeit, Scham)
  3. Körperliche Verortung: „Wo in Ihrem Körper spüren Sie diese Emotion am deutlichsten? Gibt es Druck, Wärme, Enge, Kälte, Bewegung?“
  4. Spüren ohne Analyse: „Bleiben Sie einen Moment bei diesem Gefühl, ohne es zu verändern. Einfach nur wahrnehmen.“
  5. Verbalisierung: „Wenn dieses Körpergefühl sprechen könnte – was würde es sagen?“ – (hier entsteht oft ein affektives Narrativ, das tiefer reicht als die intellektuelle Beschreibung)
  6. Integration: „Wie verändert sich Ihre Wahrnehmung, wenn Sie sich dem Gefühl auf diese Weise zuwenden?“

Hinweis für die Praxis:
Diese Übung kann in frühen Therapiephasen gut zur affektiven Erdung und Sensibilisierung beitragen. Wichtig ist ein wohlwollender, nicht-drängender Rahmen und ein stabiler therapeutischer Kontakt.

Literaturhinweis

Für vertiefende theoretische Grundlagen und praktische Anleitungen empfehle ich:

Gendlin, E. T. (1997): Focusing. Der Stimme des Körpers folgen. München: Kösel.
Ein Klassiker der körperorientierten Selbstwahrnehmung mit hoher Anschlussfähigkeit an psychodynamische Praxis.

Weitere relevante Werke:

Van der Kolk, B. (2015): The Body Keeps the Score

Marlock, G., Weiss, H. et al. (Hg.) (2006): Handbuch der Körperpsychotherapie

Ogden, P. et al. (2006): Trauma and the Body – A Sensorimotor Approach to Psychotherapy

Fühlen lernen; Wo denken nicht wieterführt

Intellektualisierung ist eine ehrbare Kunst – doch echte Veränderung geschieht, wenn das Wissen ins Fühlen sinkt. Der Körper zeigt uns, was der Kopf oft nicht weiß. Und manchmal ist genau das der Beginn von Heilung.

Intellektualisierung